S60 / Güterzugverkehr

Leonberger Kreiszeitung vom 20.08.2004
S-Bahn-Ausbau bringt dem Güterverkehr wenig
Wenn Björn Tissies kurz hinter dem Leonberger Bahnhof den Fahrtregler um ein paar Millimeter nach vorn schiebt, dann bleibt es
ruhig in seinem klimatisierten Führerhaus der knallroten Lok. Der Lokführer der modernsten Güterzugmaschine Europas bekommt wenig mit von der Unruhe am Streckenrand. Anwohner aus der Gartenstadt und dem Silberberg schlagen Alarm. Sie fürchten mehr Güterverkehr durch den Ausbau der S-Bahn-Strecke. Ihre Argumente stoßen bei Bahnexperten auf Unverständnis.
Von Michael Schmidt

"Heute sind es 326 Tonnen'', der 26-jährige Lokführer lächelt, als er auf dem Kornwestheimer Rangierbahnhof seine Bremstests mit dem Güterzug "58253'' hinter sich hat. Spielend leicht wird die modernste Güterzuglok Europas mit dieser Last fertig. Spontan ziehen die vier Drehstrommotoren mit 9000 Pferdestärken die leeren Autowaggons vom Rangierbahnhof in Richtung Leonberg und Renningen und von dort über die Rankbachbahn nach Sindelfingen. Dort warten schon wieder hunderte von neuen Daimler-Exportwagen auf ihren Transport nach Bremerhaven. Der Güterzug benötigt 42 Minuten von Kornwestheim nach Sindelfingen. Hinter den Weichen und Gleiskreuzungen des Renninger Bahnhofs verlangsamt sich die Fahrt.
Nur noch Tempo 47 zeigt der Computerbildschirm im Führerstand an. Es liegt nicht allein an den Kurven zwischen Maichingen und Magstadt. "Da wurde im Oberbau der Strecke in den vergangenen Jahren wohl nicht mehr viel saniert, wir haben einige Langsamfahrstellen'', meint Ausbildungslokführer Herbert Stolz. Er steht hinter Tissies und blickt auf Obstbäume. Würde er den Arm aus dem Fenster der Lok ausstrecken, könnte er Äpfel pflücken.

Mit dem Ausbau der S 60 über die Rankbachbahn fürchten Leonberger Bürgervereine und die Stadtverwaltung in Person des Ersten Bürgermeisters Helmut Noë, dass wesentlich mehr Güterzüge zwischen Böblingen und Kornwestheim verkehren. Die Strecke wird heute vor allem durch die "Millionenzüge'' genutzt. So nennen die Eisenbahner jene Fracht, die aus dem Daimlerwerk stammt.

Die Leonberger Argumente sorgen an diesem Morgen für Kopfschütteln im Führerstand des Güterzugs. Denn unter anderem wird behauptet, dass vor dem Bau der Stuttgarter S-Bahn auf der Gäubahntrasse, also durch den Stuttgarter Westen der Güterverkehr abgewickelt wurde. Die Güterzüge würden dann über den Glemswald, Vaihingen durch den Stuttgarter Talkessel und über den Pragtunnel abbiegen.

Ausbildungslokführer Stolz steht hinter seinem Kollegen und denkt nach. Seit 1975 fährt er Güterzüge - aber die Gäubahntrasse befuhr er nur, wenn wegen Bauarbeiten die Strecke zwischen Böblingen und Korntal gesperrt war. Sie ist zu steil für schwere Züge. Die Steigung vom Stuttgarter Norden hinauf auf die Filder ist vergleichbar mit der Geislinger Steige - und dort schieben besonders starke Lokomotiven Güterzüge ab einem Gewicht von 900 Tonnen die Alb hinauf. "Dann müssten wir ja Schiededienst vorhalten'', entfährt es Björn Tisses.

Dass die Gäubahn jemals Güterstrecke war, kann auch der Bahnsprecher Martin Schmolke nicht bestätigen. Ebenso wenig wie jene Theorie, dass wegen des Baus der Stuttgarter S-Bahn alle Güterzüge auf die Rankbachstrecke geleitet wurden und damit auch am Engelberg vorbei. "Die Route ist weniger steil und deswegen für Güterzüge besser zu fahren. Das galt früher noch mehr als heute. Denn die alten Dampf- und Dieselloks hatten wesentlich weniger Leistung.'' Die Rankbachstrecke, die am
1. Oktober als strategische Verbindung zwischen der einstigen Schwarzwaldbahn (Stuttgart- Weil der Stadt-Calw und der Gäubahn (Stuttgart-Böblingen-Horb) eröffnet wurde, habe schon immer auch als Güterstrecke gedient. Schmolke gibt außerdem zu bedenken, dass der viergleisige Pragtunnel für die Eisenbahner ein Nadelöhr sei - hier zusätzlich Güterzüge durchzulotsen, würde den reibungslosen Betrieb empfindlich stören.

Eine ähnliche Antwort bekam auch der Renninger Bürgermeister Wolfgang Faißt von der Region Stuttgart mitgeteilt, als er von den Befürchtungen aus Leonberg hörte. Der Stuttgarter Regionalverband, der auch den S-60-Ausbau mit verantwortet, weist darauf hin, dass der zweigleisige Ausbau zwischen Böblingen und Renningen ausschließlich dem S-Bahn-Betrieb zu Gute kommen.
Nachts gebe es heute schon "Reserven'' auf dieser Strecke, die nicht genutzt und wohl auch in Zukunft kaum nachgefragt würden. Da ist das Rangierverbot am Daimlerwerk, da ist eine Betriebsruhe zwischen Horb und Tuttlingen und da seien die Fahrpläne der Güterzüge, die auf die Abfertigungszeiten im großen Güterbahnhof Limmattal abgestimmt seien. Ab und zu bringt Tissies einen Güterzug in den großen Rangierbahnhof zwischen Singen und Zürich. "Die Strecke durch das Neckartal ist landschaftlich sehr schön'', schwärmt der Eisenbahner. Genau das enge Flusstal und die einspurigen Abschnitte seien es, die den internationalen Transitverkehr eher nicht über Rankbach und Glems, sondern entlang der topfebenen Rheinebene fahren lassen, so der Regionalverband.

Bahnsprecher Schmolke bedauert, dass nicht mehr Güter mit der Bahn transportiert werden und die Straßen entlasten: "Wenn am Leonberger Dreieck alle im Stau stehen, dass kann doch auch nicht im Interesse der Bürger sein?'' Gegen mehr Straßenverkehr und den Ausbau von Straßen sind die Leonberger Bürgervereine auch. Doch nur, wenn es vor ihrer Haustür geschieht.

Güterzug "58253'' hat Sindelfingen erreicht, Tesiss schiebt die Bremshebel vor - seit neustem bremsen Güterwagen mit geräuscharmen Bremsklötzen. Stille liegt über den Abstellgleisen.